Donnerstag, 4. Februar 2021

Frühjahrsähnliche Verhältnisse mit einem tageseitlichen Anstieg der Lawinengefahr - Zudem weiterhin Altschneeproblem - Unfallanalysen der tödlichen Lawinenunfälle - Rückblick auf vergangenes Wochenende

Tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr beachten


Wir befinden uns gerade (Stand: 04.02.2021) in einer für die Jahreszeit sehr warmen Wetterphase. Die in tiefen und mittleren Lagen bereits ohnehin zumindest feuchte Schneedecke wird dadurch allmählich durchnässt. In Sonnenhängen schreitet zudem der Feuchtigkeitseintrag in oberflächennahen Schichten auch in größeren Höhen voran. Mehr Feuchtigkeit in der Schneedecke bedeutet geringere Festigkeit und dadurch erhöhte Wahrscheinlichkeit von Lawinenabgängen. Die Situation wird insbesondere dann interessant, wenn Wasser bis in die bekannten - meist im Mittelteil der Schneedecke befindlichen - Schwachschichten vordringt. Dieses Szenario hängt von sehr vielen, unmittelbar vom Wetter, abhängigen Einflussfaktoren ab [u.a. (diffuse) Strahlung, Luftfeuchtigkeit, Lufttemperatur, Windeinfluss, Hangwolken), zudem natürlich von Höhenlage und Exposition und kann wirklich gut nur vor Ort abgeschätzt werden. Fest steht, dass wir zunehmend Potential für vermehrte spontane Nass- und Gleitschneelawinen haben, dies v.a. unterhalb etwa 2300m.


Erhöhte Aktivität von Gleitschneelawinen, wie hier im Außerfern. Förderlich war u.a. Regeneinfluss vom 02.02.2021 (Foto: 02.02.2021) 


Gleitschneelawinen im südlichen Osttirol (Foto: 28.01.2021)


Spontaner Lawinenabgang im Pitztal, Ortsteil Neurur am 03.02.2021 um 13:00 Uhr. Anbruch auf 2350m, Nord. Impuls durch Lockerschneelawine aus felsigem Bereich aufgrund diffusen Strahlungseinflusses samt Wärmeeintrag als mögliche Ursache (Foto: 03.02.2021)



Frisches, nasses Schneebrett, 1850m, Süd. Sellraintal (Foto: 03.02.2021)



Zu oberem Bild passendes Schneeprofil. Die Schneedecke ist in dieser Höhenlage und Exposition isotherm, also 0° (roter Strich). Wasser drang hier bereits zur Schwachschicht ein und erhöhte die Störanfälligkeit der Schneedecke.


Nasse Lockerschneelawinen aus extrem steilem, von der Sonne beschienenen Gelände sind hingegen auch in größeren Höhen zu erwarten. Vermehrt konnten Lockerschneelawinen bereits am 03.02. beobachtet werden. Nach aktuellen Wetterinfos könnten diese Lawinen tendenziell häufiger wieder am Samstag, 06.02.2021 auftreten.



Nasse Lockerschneelawinen aus felsdurchsetztem Gelände. Sellraintal (Foto: 03.02.2021)


Aufgrund des vorherrschenden Altschneeproblems ist es durchaus zu erwarten, dass durch Impulse von Lockerschneelawinen in Folge Schneebrettlawinen in tieferen Schichten brechen können. Lawinen können dadurch zumindest groß, vereinzelt auch sehr groß werden.

Betrachten wir die zwei erwähnten Auslöseszenarien für die Aktivierung der Schwachschicht...

  • Eindringen von Nässe bis zur Schwachschicht
  • Impuls durch die Zusatzbelastung aufgrund nasser Lockerschneelawinen (aus extrem steilem Gelände)
...so ist die Auslösung durch den Impuls von nassen Lockerschneelawinen aufgrund der uns aktuell zur Verfügung stehenden Wetterinformationen als wahrscheinlicher anzusehen.


Weiterhin Altschneeproblem beachten! Vorsicht v.a. in einem Höhenband zwischen etwa 1900m und 2300m


Das in den letzten Blogeinträgen bereits hervorgehobene Altschneeproblem gilt es weiter zu beachten. Am ausgeprägtesten ist dieses unverändert in einem Höhenband zwischen etwa 1900m und 2300m und zwar in allen Hangrichtungen. Sämtliche, während der vergangenen Zeit passierten Lawinenunfälle hatten sich in diesem Höhenband zugetragen. Die Situation muss als heimtückisch angesehen werden, weil die Störanfälligkeit der Schneedecke selbst für erfahrene Personen schwierig einzuschätzen ist. Am ehesten lassen sich Lawinen an schneearmen Stellen bzw. an Übergängen von wenig zu viel Schnee auslösen. Vereinzelt sind unverändert Fernauslösungen aus flacherem Gelände vorstellbar.

Schneebrettlawinen können für Wintersportler gefährlich groß werden. Dies hat mit der über große Flächen gleichmäßig vorhandenen Schwachschichten und der damit über große Flächen möglichen Bruchfortpflanzung zu tun.

Vergleichen wir die Situation noch mit jener vom Wochenende, so gehen wir wir inzwischen davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Auslösung doch abgenommen hat, die Konsequenzen einer Lawinenauslösung aufgrund deren Größe aber weiterhin hoch sind ("low(er) probability - high consequence").



An diesem Profil vom Pitztal auf ca. 2150m, NO erkennt man gut die dünne, lockere Schwachschicht. Stabilitätstests zeigten hier gute Bruchfortpflanzungen bei mäßiger Belastung. Die Schneedecke hat in dieser Exposition und Höhenlage noch Temperaturreserve. Eine Durchfeuchtung der Schwachschicht ist hier während der kommenden Tage nicht zu erwarten.


Lawinenunfall-Analysen der vergangenen Woche


Vergangene Woche starben in Tirols Bergen 5 Personen bei Lawinenabgängen: Hier eine kurze Analyse:


Lawinenunfall Juifenalm (Nördliche Stubaier Alpen) am 30.01.2021


Zwei Skitourengeher*innen befanden sich in der Abfahrt von "Auf dem Sömen" im Sellraintal, als sich bei einer Querung in einem ca. 35° steilen Hang eine Schneebrettlawine löste. Beide wurden von der Lawine mitgerissen und total verschüttet. Einer Person gelang es zwar, den Airbag zu ziehen, jedoch wurde die Person in Bauchlage liegend von nachfließendem Schnee derart verschüttet, dass eine Selbstbefreiung nicht möglich war. Der Unfall wurde erst am Folgetag bemerkt. Während einer nächtlichen Suchaktion konnten die Personen geortet und ausgegraben werden.



Lawinenabgang im Nahbereich der Juifenalm. Pfeil zeigt die Einfahrtsspur, Kreis die Verschüttungsstelle. (Foto: 01.02.2021)


Der Anrissbereich liegt auf einer Seehöhe von ca. 2140m. Die Lawine war ca. 150m lang, 30m breit, bei einer durchschnittlichen Anrissmächtigkeit um die 40cm. Der Hang ist Richtung Westen ausgerichtet.


Im Bildvordergrund erkennt man die Verschüttungsstellen. (Foto: 01.02.2021)



Schneeprofil im Bereich des Hangfußes orographisch links der Lawine. Die Pfeile markieren zwei lockere Schichten, dazwischen eine dünne Schmelzkruste, die sich kurz vor Weihnachten gebildet hat. (Foto: 01.02.2021)



Profil zu obigem Foto. Relevant für den Unfall war die untere Bruchfläche (gelbe Linien am Rand)


Lawinenunfall Widdersbergsattel (Nördliche Stubaier Alpen) am 30.01.2021


Eine Person befand sich im Aufstieg Richtung Widdersbergsattel (Ausgangspunkt Axamer Lizum). Dabei löste sich ein Schneebrett, von dem die Person mitgerissen und total verschüttet wurde. Zwei, am nahegelegenen Widdersberg befindliche Personen, bemerkten zeitverzögert den Lawinenabgang, fuhren zum Lawinenkegel, konnten sofort ein LVS-Signal empfangen und die Person ausgraben. Wiederbelebungsversuche blieben ohne Erfolg. Bei diesem Lawinenabgang kann nicht mehr eindeutig nachvollzogen werden, ob sich die Person während des Lawinenabgangs noch im Bereich des Hangfußes oder aber bereits im durchschnittlich 35° steilen Hang befand. Das Schneebrett war 160m lang, 125m breit, bei einer durchschnittlichen Anrissmächtigkeit von ca. 50cm (mit Maxima von bis zu 2m). Der Lawinenhang ist Richtung Osten ausgerichtet. Der Anrissbereich befindet sich auf ca. 2250m.



Lawinenabgang unterhalb des Widdersbergsattels in den Kalkkögeln. Das Foto wurde von der Alpinpolizei während des Lawineneinsatzes aufgenommen. (Foto: 30.01.2021)



Orographisch rechter Lawinenanriss (Foto: 31.01.2021)



Schneeprofil orographisch rechts der Lawinenbahn im Nahbereich der Verschüttungsstelle. Der Bruch erfolgte in einer lockeren, kantigen Schicht unterhalb einer dünnen Schmelzkruste


Lawinenunfall Neunerkogel (Nördliche Stubaier Alpen) am 30.01.2021


Ein jugendlicher Variantenfahrer fuhr vom Drei-Seen-Lift kommend Richtung Kühtai unterhalb der Staumauer Finstertal zu Tal. Unterhalb eines kleinen, extrem steilen Hanges verlor der Variantenfahrer einen Ski. Als die Person den Ski holte, löste sich eine Schneebrettlawine, welche die Person verschüttete. Zwei Begleiter konnten rechtzeitig ausfahren. Die Verschüttungstiefe betrug ca. 40cm. Der Variantenfahrer hatte kein LVS-Gerät dabei, was die Suche erschwerte. Ein Lawinenhund konnte die Person schlussendlich orten. Wiederbelebungsmaßnahmen vor Ort blieben ohne Erfolg.


Schneebrettlawine unterhalb des Neunerkogels. Der Unfallhang war zumindest im unteren Bereich bereits vielfach verspurt. Der Bruch pflanzte sich über felsiges Gelände fort. (Foto: 30.01.2021)


Die Schneebrettlawine wies eine Länge von ca. 150m bei einer Breite von ca. 80m auf. Der Anriss war durchschnittlich ca. 70cm hoch.


Schneeprofil Neunerkogel - eine sehr ähnliche Situation wie bei den anderen Lawinenunfällen.



Lawinenunfall Arbeserkogel (Östliche Tuxer Alpen) am 01.02.2021


Zwei Personen gingen über die Skipiste auf den Arbeserkogel südlich von Schwaz. Dort angelangt führte ihre Route entlang einer Schulter Richtung Kellerjoch. Als Abfahrtsroute wurde ein extrem steiler, nach Norden ausgerichteter Hang ausgewählt. Als die erste Person in den Hang einfuhr, löste sich nach den ersten Schwüngen eine sehr große Schneebrettlawine. Die Person erlitt während des Absturzes tödliche Verletzungen. 
Da aufgrund des Geländes eine terrestrische Suche als zu gefährlich erachtet wurde, erfolgte diese via Hubschrauber. Wie sich später herausstellte, war das LVS-Gerät zwar eingeschaltet, jedoch dürfte die Batterie zu schwach für einen Empfang gewesen sein. Die Person konnte vom Hubschrauber aus nach längerer Suche via Recco-Gerät geortet werden.


Lawinenabgang Arbeserkogel. Der Pfeil zeigt die Einfahrtsspur, der Kreis die Verschüttungsstelle. Die Lawine war ca. 890m lang und 220m breit bei einer durchschnittlichen Anrissmächtigkeit von ca. 70cm.


Lawinenanriss. Pfeil zeigt den Bereich der Einfahrtsspur. (Foto: 01.02.2021)



Einfahrtsspur. Man erkennt sehr gut den anfangs schneereichen Bereich. Die Spur führte in Richtung eines schneearmen Bereichs knapp unterhalb des Baumes. Wenige Meter unterhalb löste sich die Lawine, als die Person in der Abfahrt war. (Foto: 01.02.2021)


Schneeprofil im Nahbereich des Auslösepunktes. Es handelte sich dort um eine schneearme Stelle.Die zwei Pfeile zeigen auf zwei lockere, kantige Schichten. Dazwischen findet man eine Kruste. (Foto: 02.02.2021)



Schneeprofil zu obigem Foto.



Hier zum Vergleich ein weiteres Profil, welches an einer schneereicheren Stelle oberhalb des Anrisses aufgenommen wurde. Man benötigte dort eine große Belastung, um die relevante Schwachschicht zu stören.


Rückblick auf die vergangene Woche, insbesondere auf das vergangene Wochenende


Die vergangene Woche war sehr wechselhaft. Die Abfolge von Kalt- und Warmfronten brachte im Westen bis ca. 100cm Schnee bei anfangs stürmischen Verhältnissen. Richtung Osten nahm die Neuschneehöhe sukzessive ab, bewegte sich dort meist zwischen 20cm und 50cm.


Wechselhaft...


Mit Eindringen der Warmfront am 28.01. stieg die Lawinengefahr markant an. Es lösten sich zahlreiche spontane Lawinen, im Westen mehrfach auch sehr große. Am Samstag, 30.01. konnten - ebenso wieder v.a. im neuschneereichen Westen - sehr große Lawinen abgesprengt werden. Die folgenden Tage lösten sich dann - über die Tage verteilt - vereinzelt immer wieder große bis sehr große Lawinen von selbst. Meist lag die Ursache in weiterer Zusatzbelastung aufgrund von umfangreichen Schneeverfrachtungen, teilweise auch in der Schwächung der Schneedecke durch diffusen Strahlungseinfluss.


Gefahreneinschätzung für Samstag, den 30.01.2021


Aufgrund einiger Anfragen zu unserer damaligen Lawinenbeurteilung, die donnerstags und freitags mit groß, nach Durchzug der Warmfront am Samstag auf eine kritische Stufe 3 heruntergestuft wurde, hier noch unsere retrospektiv gesehene Einschätzung der Situation:

Rückblickend betrachtet wäre die Einstufung am Samstag, mit „groß“ gebietsweise, v.a. für die Gebiete im Westen (Paznaun, Arlberg) treffender gewesen. Der wichtigste Beweggrund, auf eine kritische Stufe 3 zurückzustufen, war damit begründet, dass die spontane Lawinenaktivität während des Durchzugs der Warmfront von Donnerstag 28.01. auf Freitag, 29.01. massiv gewesen ist und dadurch viele Lawinen bereits spontan abgegangen sind. Wir haben versucht, im Text des Lawinenreports auf Wesentliches hinzuweisen, was in Summe doch recht gut zur Situation gepasst haben dürfte. 

Was zu wenig beachtet wurde – und das war ausschlaggebend – war eindeutig das sich über große Flächen gebildete neue Schneebrett aufgrund der Warmfront, und zwar über der bereits bestehenden Schneeauflage seit Mitte Jänner und der unter dieser Schneeschicht befindlichen Schwachschicht. Dieses neue Schneebrett förderte die Bruchfortpflanzung insbesondere in den neuschneereichen Regionen im Westen in selten beobachtetem Ausmaß. 


Als sich eine Lawine vermutlich spontan löste, gingen in Folge mehrere Lawinen im gesamten Kessel ab - eine gewaltige Bruchfortpflanzung am Fließer Berg. Durch Glück wurde der Fotograf samt Begleitung, welche sich in mäßig steilem Gelände aufhielten, nicht von der im Vordergrund befindlichen Lawine verschüttet (Foto: (c) Noah Ladner, 30.01.2021)


Gerade in den Unfallgebieten war dieses neue Brett nicht allzu mächtig – es schneite dort in Summe 20-30cm, dies allerdings unter starkem bis stürmischem Windeinfluss. Stabilitätstests, die vor dem Eintreffen der Frontensysteme durchgeführt wurden, deuteten darauf hin, dass die oben angesprochene Schwachschicht nicht mehr ganz so störanfällig war. Offensichtlich genügten auch diese geringeren Mengen an Neuschnee in Verbindung mit Wind aus, um durch die Entstehung eines gut ausgeprägten Schneebretts eine erhöhte Störanfälligkeit sowie zum Teil auch großflächige Lawinen produzieren zu können. Mit ausschlaggebend war zudem unbedingt auch die vom 21. auf den 22.12. gebildete Regenkruste bis etwa 2400m hinauf, die während der Kältephase zumindest bis etwa 100 Höhenmeter darunter wieder zerstört wurde. Oberhalb und unterhalb dieser Regenkruste finden wir über große Flächen gleichmäßig verteilt kantige, lockere und aktuell noch vermehrt störanfällige Schichten, besonders in dem im Lawinenreport beschriebenen Höhenband zwischen etwa 1900m-2300m. 

Also,  in Summe eine – auch für uns Prognostiker – sehr fordernde Zeit (auch in Zusammenhang der großen Unsicherheit der Wetterprognosen) mit einer durchaus komplexen Lawinensituation. 

Wir werden solche Situationen in Zukunft sicherlich noch umfassender zu analysieren versuchen. Die Situation erinnert retrospektiv u.a. an den 06.02.2016 (Lawinenunfall Geier in der Wattener Lizum) sowie an den 08.03 und 09.03.2017 mit ähnlichem Lawinenpotential.